Das Potenzial des Vorhandenen nutzen

englerarchitekten
13. Juli 2023
Das Mehrfamilienhaus bildet den Abschluss einer Häuserzeile aus den 1980er-Jahren. Diese besondere städtebauliche Situation war eine zusätzliche gestalterische Herausforderung für die Architekten. (Foto: Nic Hahne Photography)
Herr Kuhny, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Ausgehend von einer Potenzial- und Machbarkeitsstudie formulierte die Bauherrschaft den Wunsch, die Nutzungsreserven ihrer Parzelle weitestgehend auszuschöpfen. Das bestehende zweigeschossige Garagen- und Werkstattgebäude zu erhalten und aufzustocken, war dabei die vielversprechendste Lösung.

Entstanden sind barrierefreie Wohnungen unterschiedlicher Grösse, die sowohl jüngere als auch ältere Mieter ansprechen und der attraktiven Lage des Gebäudes an einer verkehrsberuhigten Quartierstrasse mit Blick auf einen weitläufigen und begrünten Innenhof gerecht werden. Alle Grundrisslayouts haben wir individuell im Spannungsfeld der Gegebenheiten des Bestandes einerseits und der Einflüsse des Ortes und der Nachbarschaft andererseits entwickelt. Differenzierte und vielfältig nutzbare Aussenräume bereichern die einzelnen Wohnungen zusätzlich und vermitteln zwischen Stadtraum und Privatem.

Der Bestand wurde durch die Aufstockung nicht überformt, er bleibt klar erkennbar. Zunächst ungewohnt ist indes die Holzfassade im städtischen Kontext. Doch die Verwendung des Naturbaustoffs war bei diesem Projekt statisch wie ökologisch sinnvoll. (Foto: Nic Hahne Photography)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Unsere erste Inspirationsquelle war das Projekt «Parasite Las Palmas» im Hafen von Rotterdam. Es handelt sich dabei um ein autarkes Kleingebäude – man könnte von einem Vorläufer heutiger Tiny Houses sprechen –, das auf einem leerstehenden Lagergebäude als Kunstprojekt der Architekten Mechthild Stuhlmacher und Rien Korteknie errichtet wurde. Wie dieses sollte auch unsere Aufstockung den Bestand sinnvoll ergänzen und erweitern, aber nicht überformen. Uns war wichtig, dass das vorhandene Bauwerk und dessen Geschichte jederzeit erkennbar und ablesbar bleiben.

Aus dem betonierten Erdgeschoss mit den Garagen führt eine sorgfältig gestaltete Treppenanlage zu den Wohngeschossen empor. Die Farbpalette der Fassaden findet im Gebäudeinneren ihre Fortsetzung. (Foto: Nic Hahne Photography)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Das Quartier, in dem sich das Haus befindet, liegt im Norden von Basel. Es ist umgeben von unterschiedlichen Landschafträumen und Urbanität. Westlich des Baufensters liegt ein Rangierumschlagplatz, der weiter nördlich in den Spickel des Dreiländerecks ausläuft, dort also wo Deutschland, Frankreich und die Schweiz aufeinandertreffen. Alles in allem handelt es sich um eine ungemein diverse und lebhafte Umgebung, die sich an der Nahtstelle zwischen Hafenquartier, Wiesendamm und dem nördlich gelegenen Stadtteil Kleinhüningen entfaltet.

Das Gebäude trägt seinem Kontext Rechnung, indem es differenziert gestalteten, flächenmässig optimierten und leistbaren Wohnraum für eine breite Klientel zur Miete bietet.

Aus diesem Wohnraum im 2. Obergeschoss blickt man auf den begrünten Innenhof. (Foto: Nic Hahne Photography)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


Die Bauherrschaft hat vor allem in der Vorprojektphase durch die Formulierung ihrer Wünsche Einfluss genommen. So war ihr an der Ausnutzung der vorhandenen Nutzungsreserven gelegen, am Erhalt der bestehenden Garagen im Erdgeschoss und an differenziert gestalteten und barrierefrei erschlossene Mietwohnungen mit attraktiven Aussenräumen.

Sichtbare Holzoberflächen prägen die Wohnräume im Aufbau. (Foto: Nic Hahne Photography)
Ein Atrium bringt zusätzlich Licht in die Wohnräume. (Foto: Nic Hahne Photography)
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


Die engen baurechtlichen Vorgaben und die städtebaulich prominente Lage als Abschluss einer bestehenden Häuserzeile aus den 1980er-Jahren erforderten ein intensives Variantenstudium und die Entwurfsarbeit mithilfe eines grossmassstäblichen Modells. 

Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Wir beschäftigen uns bereits seit mehreren Jahren intensiv mit dem Nutzungspotenzial bestehender Gebäude und dem Bauen im Bestand. Dabei handelt es sich nicht nur um klassische Sanierungen, sondern auch um Umbauten und Erweiterungen, die dem Leitsatz «so viel wie möglich erhalten, so wenig wie möglich ersetzen» folgen. Uns ist dabei wichtig, dass unsere Eingriffe am fertiggestellten Objekt ablesbar sind. Besonders gut gelungen ist uns das bei der Sanierung eines Mehrfamilienhauses in Basel, im Zuge derer das bestehende Satteldach durch einen neuen Dachaufbau ersetzt und der Dachraum so nutzbar gemacht wurde.

Die Aufstockung verfügt über eine Dachterrasse mit Attika. (Foto: Nic Hahne Photography)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Die ökologischen Vorteile des Holzbaus insbesondere für die Bekämpfung des Klimawandels sind unbestritten – noch neu und ungewohnt ist beim Aufstockungsprojekt am Giessliweg allerdings der Einsatz von Holz als Fassadenmaterial im städtischen Kontext. Wichtig war uns, mit diesem Projekt aufzuzeigen, dass eine Sanierung viel mehr als nur die Optimierung der Wärmedämmung sein kann. Es ist vielmehr möglich, nachhaltige Verbesserungen im Hinblick auf die Nutzbarkeit des Wohnraums, den sommerlichen Wärmeschutz und die Ökologie als Ganzes zu erzielen.

Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Holz hat sich nicht nur wegen seiner ökologischen Vorteile als Baustoff angeboten, sondern auch wegen seines geringen Gewichts. Der Holzbau sollte sich, wie eben schon angedeutet, im städtischen Kontext nach aussen hin zeigen und ablesbar sein, um die Bauhistorie des Gebäudes sichtbar zu machen. Aus diesem Grund wurde Holz im Aussenbereich als Fassadenmaterial und weiter auch für die Bodenbeläge der Terrassen und Balkone eingesetzt.

Als Blick- und Sonnenschutz vor allen Fenstern der Wohngeschosse haben wir farblich auf die Holzfassade abgestimmte Zip-Stoff-Storen verbaut, die es den Bewohnern ermöglichen, Ein- und Ausblicke gezielt zu steuern und den jeweiligen Bedürfnissen im Verlaufe eines Tages anzupassen. So kann zum Beispiel der strassenseitige Erker im 2. und 3. Obergeschoss tagsüber Aussichtskanzel und am Abend intimer Rückzugsort innerhalb der Wohnung sein.

Situation (© englerarchitekten)
Grundriss Erdgeschoss (© englerarchitekten)
Grundriss 1. Obergeschoss (© englerarchitekten)
Grundriss 2. Obergeschoss (© englerarchitekten)
Grundriss 3. Obergeschoss (© englerarchitekten)
Grundriss Attikageschoss (© englerarchitekten)
Querschnitt (© englerarchitekten)
Längsschnitt (© englerarchitekten)
Bauwerk
Umbau und Aufstockung eines ehemaligen Garagen- und Werkstattgebäudes
 
Standort
Giessliweg 81, 4057 Basel
 
Nutzung
Mehrfamilienwohnhaus
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
englerarchitekten gmbh sia, Basel
Thorsten Kuhny (Projektleitung), Balz Staehelin (Bauleitung), Ümra Karahan (Bauleitung), Bodil Broniarek, Daniela Locci, Christoph Rönsch, Vladan Glogovac und Philipp Sanio
 
Fachplaner
Bauingenieur: Schmidt + Partner Bauingenieure AG, Basel
Holzbauingenieur: Timbatec Holzbauingenieure Schweiz AG, Bern
Elektroplanung: edeco ag, Aesch
HLK-Planung: Tebit Haustechnik AG, Binningen
Sanitärplanung: Roland Rufatti, Basel
Bauphysik und Akustik: Ehrsam Beurret Partner AG, Pratteln
 
Fertigstellung
2023
 
Gesamtkosten BKP 1–9
CHF 2.7 Mio.
 
Gebäudekosten BKP 2
CHF 2.5 Mio.
 
Gebäudevolumen
1975 m3 (gemäss SIA 416)
 
Kubikmeterpreis
1265 CHF/m3
 
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Baumeisterarbeiten: Ernst Frey AG, Kaiseraugst
Holzbau: Hürzeler Holzbau AG, Magden
Spengler- und Flachdacharbeiten: Morath AG, Allschwil
Sonnenstoren und Markisen: Griesser AG, Pratteln
Gipser- und Verputzarbeiten: Goepfert & Friedel AG, Basel
Schlosserarbeiten: Von Arx AG Schlosserei + Metallbau, Riehen
 
Fotos
Nic Hahne Photography, Allschwil

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